
Wir sind Nachbarn.
Leben am Maximilianstift in der Leipziger Südvorstadt
in: Leipziger Blätter Nr. 61, Herbst 2012, S. 50-51
Die Recherchen für den Artikel betreibe ich, wenn man so will, seitdem das Heim auf dem Nachbargrundstück eröffnet wurde. In den letzten Monaten nahm die Idee Gestalt an, diese besondere Nachbarschaft mit ihren Herausforderungen und Bereicherungen in einem Artikel für die Leipziger Blätter darzustellen. Die Heimleitung ermöglichte mir persönliche Gespräche mit Bewohnern vor Ort und stand mir in jeder Hinsicht wohlwollend und unterstützend zur Seite.
Leseprobe
Montagvormittag 10 Uhr an der Bushaltestelle in der August-Bebel-Straße. Zwei Touristen studieren den Fahrplan. Ein Mann mit Aktentasche sitzt im Wartehäuschen. Er könnte auf dem Weg zur Arbeit sein. Die Verschlüsse seiner Tasche schnappen, der Wartende entfaltet eine Zeitschrift und beginnt zu lesen. Wenig später führt er einen Tetrapack zum Mund – „El Taberno Vino Tinto“. Eine Mutter mit Kinderwagen geht vorüber. Flüchtig nur nimmt sie den Mann wahr – Herrn Hofmann. Der sitzt hier häufiger. Er wohnt im Pflegeheim unten auf der Brandvorwerkstraße. Was die junge Frau nicht weiß: Herr Hofmann ist Arzt, Internist und Facharzt für Nierenheilkunde – ganz korrekt ist er also Herr Dr. Hofmann. Allerdings hat er seit zehn Jahren keinem Patienten mehr geholfen. Vielmehr ist er es, der inzwischen Hilfe braucht. Zwei folgenschwere Unfälle brachten das Leben des heute 52-Jährigen aus dem Lot. Als Notarzt überlebte er 1993 nur knapp den Absturz seines Rettungshubschraubers. Acht Jahre später erlitt er bei einem Fahrradunfall trotz Helms wiederum schwerste Schädelverletzungen. Seine Anstellung als Arzt verlor er. Irgendwann in dieser Zeit suchte er Trost beim Alkohol.
Auch Herr Paul, der es sich auf einer Bank auf dem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen bequem gemacht hat, lebt im Maximilianstift. Er hat sein Bierchen dabei. Es gab Zeiten, da konnte er in eineinhalb Stunden eine Flasche Schnaps austrinken und danach noch geradeaus laufen. Das ist vorbei. Auch seine Arbeit als Heizungsmonteur auf Montage in München und Berlin ist vorbei. Dabei ist Herr Paul noch nicht einmal 50 Jahre alt. „Auf Montage trinkt man auch ein Bier“, meint er heute schulterzuckend, „doch dann bin ich irgendwie ein bisschen abgerutscht.“ Aufgefangen hat ihn das Pflegezentrum Maximilianstift, das sich auf die Betreuung chronisch abhängiger Menschen spezialisiert hat. Hier erlebt Herr Paul nun wieder einen geregelten Tagesablauf mit einer gewissen Kontrolle, mit Angeboten und festen Strukturen. Fast könnte man ihn auf dem Grünstreifen der August-Bebel-Straße übersehen, wie er da sitzt, vor sich hinschaut und hin und wieder aus seiner Flasche trinkt.

Herr Dr. Hofmann verstarb kurze Zeit nach dem Erscheinen des Artikels im Dezember 2012 .